Wie Herr Helm Lügen über die Sünde verbreitete

Immer wenn Herr Helm, der Jungscharleiter die Andacht hielt, war Thorsten ein aufmerksamer Zuhörer. So war es nicht weiter verwunderlich, daß er auch immer eine ganze Reihe von Fragen anmeldete. Auch heute platzte er wieder mit einer Frage heraus, die sich sehen bzw. hören lassen konnte: "Herr Helm, warum kann man Gott eigentlich nicht sehen? Es wäre doch alles viel leichter, wann man Gott sehen könnte! So weiß man ja nie, ob Gott wirklich da ist."

So beginnt ein Artikel, den ein gewisser C. H. in der Jungscharzeitschrift "Die Spur" (1) in der Ausgabe 12/1971 veröffentlicht hat. Dies ist in der Tat eine der klügsten Fragen, die je ein Jungscharler gestellt hat. Und seien wir mal ehrlich, wer von uns Christenkindern hätte sie nicht auch irgendwann zumindest still in Gedanken gestellt? Warum zeichnet sich ausgerechnet das wichtigste Wesen in- und außerhalb des Universums dadurch aus, daß es nicht wahrgenommen werden kann? Eine Eigenschaft, die jedem popeligen Sandkorn innewohnt, fehlt ausgerechnet Gott, dem Allmächtigen, völlig. Wie soll gerade ein Kind es verstehen, daß der Person, auf die es sich angeblich am allermeisten verlassen kann, gerade die Haupteigenschaft eines Verläßlichen - seine Anwesenheit - fehlt?

Was wird Herr Helm auf diese Frage antworten? Lesen wir weiter:

Nach einer kurzen Pause der Überlegung antwortete Herr Helm: "Ja Jungs, diese Frage ist uralt. Fast jede Generation stellte sie. Angefangen bei Mose (2. Mose 33, 18 folg.) bis hin zu den Jüngern Jesu (Joh. 14, 8 folg.). An dieser Frage wird deutlich, daß der Mensch es tatsächlich merkt, daß hier eine Anordnung [sic! Womöglich ein Druckfehler und es sollte eigentlich "Unordnung" heißen], eine Störung vorliegt."

Wie - sollte Herr Helm etwa der Meinung sein, Gott sei gestört, weil er unsichtbar ist? Nein, er meint etwas ganz anderes:

"Diese Störung besteht in der Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf, zwischen Gott und Mensch. Die Bibel sagt zu diesem Zustand: Sünde! Sie ist es, die uns den Blick verdunkelt, so daß wir Gott nicht mehr sehen können!"

Hier lügt Herr Helm Thorsten und die anderen Jungscharler schamlos an. Die Frage war doch: Warum können wir Gott nicht sehen? Und zwar ganz konkret: Warum können wir ihn mit unseren Sinnen nicht wahrnehmen? Und es war für uns Jungscharler doch offensichtlich daß kein uns bekannter Mensch Gott sinnlich wahrnehmen konnte. Was hat Sünde damit zu tun? Gar nichts. Selbst in der Bibel steht nichts davon, daß Gott Adams und Evas Augen nach dem Sündenfall irgendwie verändert hätte um ihnen "den Blick zu verdunkeln". Im Gegenteil, in der Bibel wird behauptet, daß Gott sich immer wieder sinnlich wahrnehmbar gezeigt habe, und zwar nach dem Sündenfall. Abraham verkehrte mit ihm von Angesicht zu Angesicht, die Zeugen von Jesu Taufe sahen, wie sich der Himmel auftat und hörten Gottes Stimme, und auch Paulus sah ein helles Licht und vernahm die Stimme des Herrn. Nur uns Jungscharlern hat sich Gott niemals sinnlich wahrnehmbar gezeigt.

Weil Herr Helm auf die Frage offenbar keine Antwort weiß, denkt er sich diese schäbige Lüge mit der Sünde aus. Aber in seiner Antwort steckt noch eine andere, bösartige Botschaft, denn er sagt doch: Ihr Jungscharler seid selbst dafür verantwortlich, daß ihr Gott nicht sehen könnt, weil ihr Sünder seid. Herr Helm verfolgt mit seiner Antwort nämlich noch einen weiteren Zweck: Er will, daß die Jungscharler "dem Herrn Jesus ihr Herz und Leben öffnen". Und um das zu erreichen, erzählt er ihnen nicht nur die Lüge, die Sünde sei die Ursache dafür, daß sie Gott nicht sehen können, sondern behauptet, dieser Zustand lasse sich ändern. Lesen wir selbst:

"Kann dieser Zustand nicht behoben werden?" fragte Thorsten sehr gespannt. "Du wirst dich wundern," erwiderte Herr Helm, "dieser Zustand ist behoben!" Fragende, staunende Blicke trafen Herrn Helm.

Wie schon auf die erste Frage Thorstens wendet Herr Helm auch auf die nächste einen der beliebtesten Predigertricks an: Anstatt auf die ehrliche Frage eine ehrliche Antwort zu geben, dreht er den Sinn der Frage im Stillen um und gibt eine verblüffende, scheinbar unsinnige Antwort, hinter der sich jedoch gewaltige, geheime Räume der Glaubenswahrheit und -gewissheit aufzutun scheinen. Damit macht er seine Zuhörer heiß und begierig darauf, endlich hinter das Geheimnis des Glaubens zu kommen, nur um sie anschließend mit einer Erklärung abzuspeisen, die den eigentlichen Sinn der gestellten Frage umgeht. Durch seine geschickte rhetorische Figur hat er seine Zuhörer aber so verwirrt, daß sie gar nicht merken, daß sie auf einen billigen Predigertrick hereingefallen sind und ihre Fragen mitnichten ernst genommen werden. Genauso macht es Herr Helm mit seinen Jungscharlern. Lesen wir weiter:

"Ich spinne nicht, dieser Zustand ist behoben", betonte Herr Helm erneut. "Gott hat sich den [sic!] Menschen so gezeigt, daß er seinen Anblick ertragen konnte."
"Wo und wann ist das geschehen?", wollte Thorsten wissen.
"Meine Antwort liegt im Monatsspruch Dezember", sagte Herr Helm. "'Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!' Was 600 - 700 Jahre vor der Geburt Jesu der Prophet Jesaja im Auftrage Gottes sagen mußte, erfüllte sich im Stall von Bethlehem: 'Er ist offenbart im Fleisch!' 1. Tim. 3, 16. Das heißt kurz gesagt: Gott wurde Mensch in der Person Jesu. Als Gottes- und Menschensohn lebte ER unter uns. Als Heiland und Erlöser starb ER am Kreuz von Golgatha. Durch die Auferstehung von den Toten hat Gott das Opfer seines Sohnes mit seinem Leib und seinem Blut anerkannt. Damit ist die Störung, eben die Sünde, die zwischen Gott und Mensch steht, überwunden!"

Schon wieder macht Herr Helm hier eine ebenso verwirrende wie falsche Aussage. Eben hat er doch gesagt, die Sünde sei die Ursache dafür, daß wir Gott nicht sehen können. Jetzt behauptet er, durch Jesu Sühnetod sei dieser Zustand überwunden. Folglich müßten wir jetzt alle Gott sehen können. Können wir aber nicht. Was soll dieser Unsinn, Herr Helm? Warum bringst du uns so durcheinander? Wir lauschen begierig deiner Antwort auf unsere Fragen, und du verwirrst uns mit so einem unlogischen Blödsinn, tust aber so als wäre das alles klar und verständlich.

Aber Herr Helm weiß, was er tut. Er versteht es, diesem unlogischen Gebräu einen im höchsten Maße diabolischen Sinn zu geben. Lesen wir weiter:

"Und nun paßt auf ihr Jungen", fuhr Herr Helm fort, "diese Heilstatsachen haben für uns eine praktische Bedeutung. Wer dieser für uns frohen Botschaft glaubt und dem Herrn Jesus sein Herz und Leben öffnet, wird unter Jesu Führung ein neuer Mensch. Die Dinge, eben die Sünde, die uns von Gott trennte, werden durch die Vergebung Jesu überwunden und ausgelöscht. Unser Herz wird Zug um Zug erneuert. Das Endziel Jesu mit uns ist: Ein reines Herz! Wer dieses hat, darf einmal Gott sehen. Dieses Versprechen gab uns unser HERR (Matth. 5, 8). Der Weg, um Gott sehen zu können, führt immer über Jesus!" Damit schloß Herr Helm seine Andacht.

Wir Jungscharler glauben, und wir öffnen dem Herrn Jesus auch unser Herz und Leben. Dann, so denken wir, muß Jesus doch auch unser Herz erneuern. Aber eigentlich merken wir nichts von dieser Erneuerung. Das Ziel soll ein reines Herz sein. Haben wir das schon? Wohl nicht. Was können wir tun? Müssen wir mehr glauben? Wie geht das? Oder haben wir Jesus unser Herz doch nicht geöffnet? Nur wenn wir ein reines Herz haben, können wir Gott sehen, aber das auch nicht sofort, sondern irgendwann später einmal am jüngsten Tag. Und unsere Frage? Die ist doch immer noch nicht beantwortet! Wir bräuchten es doch jetzt, daß wir Gott sehen könnten, damit wir sicher sein könnten, daß er wirklich da ist, damit wir etwas Verläßliches hätten, damit wir von dieser bohrenden Ungewissheit frei würden, von diesem ständigen "Noch nicht" und "Dennoch", diesem schizophrenen Zustand, aus Gottes Schweigen Hoffnung auf seine Gegenwart schöpfen zu sollen.

Aber wir werden auf später vertröstet, und es wird außerdem noch offengelassen, ob wir zu denjenigen gehören werden, die Gott sehen dürfen. Irgendwie liegt es an uns. Aber was können wir tun? Wir glauben doch! Warum zeigt sich Gott dann nicht? Irgendetwas machen wir falsch, aber was? Wir müssen genauer hinhören, was Herr Helm sagt. Wir müssen noch genauer hinhören, was in der Bibel steht. Wir müssen diese verwirrenden Botschaften irgendwie verstehen: Die Sünde ist schon überwunden, aber doch liegt es an uns, ob sie für uns überwunden ist. Was stimmt nicht mit uns? Warum sind alle anderen Christen so gewiß, nur bei uns funktioniert es nicht? Was machen wir falsch, daß Gott sich uns nicht zeigt?

Wir Jungscharler sind älter geworden, und die glücklicheren von uns haben den Weg aus diesem verwirrenden Labyrinth gefunden und sind vom Glauben abgefallen. Wir lesen und erkennen, mit welch perfiden Methoden Herr Helm und alle Herren Helms dieser Erde uns gequält und verwirrt haben.

An Herrn Helms Andacht können wir erkennen, was die christliche "frohe Botschaft" beinhaltet:

  1. Mit uns Menschen stimmt etwas nicht. Wir sind im Zustand der Sünde. Sünde wird definiert als Getrenntsein von Gott. Aber was das nun genau mit uns zu tun hat, und wodurch die Trennung verursacht wird, bleibt völlig unklar. Wir erfahren nur, daß wir dafür verantwortlich sind.
  2. Gott vollzieht die Todesstrafe, die wir Menschen aufgrund unserer Sünde verdient haben, an seinem Sohn bzw., da der Vater und der Sohn ja eins sind, an sich selbst. Wir Menschen sind offensichtlich so schlecht, daß er seinen Sohn bzw. sich selbst für uns opfern muß. Wir sind also auch noch für Leiden und Tod Christi verantwortlich, was unser Schuldkonto weiter erhöht.
  3. In den Genuß der Begnadigung, die durch Jesu Tod erwirkt wurde, kommen wir aber nur, wenn wir glauben und dadurch einen Prozeß auslösen, in dem Gott uns erneuert. Wie das vor sich geht und wie wir diese Erneuerung erkennen können, bleibt wieder völlig unklar und unverständlich.
  4. Ebenso bleibt unklar, was "Glauben" ist, und woran wir erkennen können, ob wir glauben oder nicht. "Glauben" beinhaltet aber offenbar zumindest zwei Aspekte:
    a) die eigene Sündhaftigkeit anzuerkennen und
    b) unsere Gedanken, Worte und Taten von Gottes Willen bestimmen zu lassen. Aber was ist Gottes Wille? Das, so heißt es, stehe in der Bibel, einem so verworrenen und verwirrenden Buch, wie es kaum ein zweites gibt.
  5. Niemand kann sich letztlich sicher sein, ob er wirklich im Stande der Gnade lebt. Wir können nur hoffen - und uns fürchten.

(1) "Die Spur" war eine gemeinsame Jungscharzeitschrift des EC-Verbandes und des CVJM aus den 60er und 70er Jahren des 20.Jahrhunderts. Der EC-Verband nennt sich heute Deutscher Jugendverband "Entschieden für Christus".

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