Eigenliebe tötet

Das folgende "meditative" Gebet von Michel Quoist, aus dem ich einige Stellen zitiere, fand Ursula Noetzel offenbar so erbaulich, dass sie es in ihrem Sammelband "Der Andere" (Evangelische Verlagsanstalt Berlin, 1965) veröffentlichte.

Herr, es gibt nur zwei Arten von Liebe,
die Eigenliebe und die Liebe zu Dir und den andern,
und jedesmal, wenn ich mich liebe, ist das ein bißchen weniger Liebe für Dich und für die andern,
ist es ein Schwinden an Liebe;
denn die Liebe ist geschaffen, um von mir auszugehen und zu den anderen zu fliegen.
Jedesmal, wenn sie auf mich zurückkommt, siecht sie dahin, verfault und stirbt.
[...]
Herr, was noch schwerer wiegt, ist, daß die Eigenliebe eine gestohlene Liebe ist.
Sie war bestimmt für die anderen, sie hätten sie gebraucht, um leben und sich entfalten zu können, ich aber habe sie anders gelenkt.
So schafft die Eigenliebe das menschliche Leiden,
so schafft die Liebe der Menschen zu sich selber das menschliche Elend,
alle menschlichen Nöte, alle menschlichen Leiden:
[...]
ich habe Deine Liebe vergeudet, Herr.
Heute abend bitte ich Dich, hilf mir lieben.
Schenke mir, Herr, daß ich die wahre Liebe wieder in der Welt ausbreite.
[...]
Hilf mir lieben, Herr,
hilf mir,
meine Liebeskräfte nicht zu vertrödeln,
mich immer weniger und die anderen immer mehr zu lieben,
damit rings um mich niemand leidet oder stirbt, weil ich die Liebe gestohlen habe, die er zum Leben gebraucht hätte.
[...]

Michel Quoist drückt hier sehr inbrünstig das Verhängnis aus, in dem sich ein Christenmensch vorfindet: Es gibt eine unerbittliche Feindschaft zwischen der Liebe zu mir und der Liebe zu Gott und den Menschen. Wenn ich mich liebe, nehme ich Gott und den Menschen etwas weg, ja wegen meiner Liebe zu mir muß ein anderer sterben. Das ist meine große Schuld. Deswegen bin ich verdammungswürdig. Deshalb muss ich mich für Gott und "den Anderen" opfern. Wie Christus sich für mich opferte, muss ich mich nun auch für andere opfern.

An der Gasselstiege, unweit meiner Wohnung steht ein Kruzifix vor einem Bauernhof. Dort hängt Christus am Kreuz und ich lese die Aufschrift(1):

Das tatest du für mich - Was tue ich für Dich?

Sehr münstersch-katholisch, dieses Kruzifix, aber dennoch passt es hier gut hinein.

(1) Nachtrag: Der heutige Bauer hat offenbar ein Gespür für die Ungeheuerlichkeit dieser Inschrift. Nach einer kürzlichen Renovierung, bei der der Sockel des Kruzifixes neu gestrichen wurde, hat er die Inschrift nicht wiederherstellen lassen.

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