"Und wenn Gott wäre..." heißt der Titel eines Buches von Helmut Thielicke (Quell Verlag Stuttgart 1970), das meine Eltern mir Mitte der 80er Jahre schenkten, offenbar in der Hoffnung, es könne mir einen neuen Zugang zum Glauben ermöglichen. Es enthält Predigten über "die Frage nach Gott", die Thielicke im Hamburger Michel gehalten hat. Am Ende der zweiten Predigt mit dem Titel "Womit ich stehe und falle" stieß ich auf einen Abschnitt (S. 56), der mir unter die Haut ging.
Zuerst konnte ich es kaum fassen, was da geschrieben stand, daß da ein Theologe in einer Predigt klar und deutlich aussprach, was ich als christliche Botschaft immer mehr geahnt, erfühlt und zwischen den Zeilen gelesen hatte, und wofür ich immer wieder handfeste Beweise suchte. Und hier stand ein Beweis, ausgestattet mit der Autorität des Theologen Helmut Thielicke. Ich brauchte nur zu lesen:
Gerade darin zeigt sich die Liebe Gottes, daß er nun bei dem Menschen im Hexenkessel seines Elends bleibt und daß sein Sohn mit uns in diesem Kessel ist, so daß wir es verstehen lernen: Auch in den Gerichten, die der Vater verhängen muß, hält er sein Kind noch bei der Hand. Wir hören das väterliche Wort: "Dein Schmerz ist mein Schmerz, und deine Strafen und das Gericht über dich tun mir selber im Herzen weh."
Jeder Vater spürt ja den Schmerz, den er strafend seinem Kinde zufügt, doppelt am eigenen Leibe. Darin besteht gerade die Einzigartigkeit des väterlichen Strafens, daß jeder Vater, jede Mutter sich im Grunde selbst mit unter die Strafe stellen. Und wenn wir einmal auf die pädagogische Seite der Sache achten, werden wir sehen, daß der eigentlich erzieherische Einfluß gar nicht so sehr von dem körperlichen Schmerz der Prügel oder von der Einschüchterung durch Schimpfen und Schelten ausgeht, sondern davon, daß das Kind spürt: es tut dem Vater selbst weh, wenn er das tun muß; es tut ihm weh, weil er mich lieb hat; er trägt die Strafe selber mit. Wenn dieser Schmerz der Liebe nicht empfunden wird, ist das ein bedenkliches Symptom dafür, daß hier nicht in Liebe erzogen, sondern nur mit Terror dressiert wird.
Das alles spüren wir am Leiden Jesu: Da leidet Gott selber mit uns, da steht er unter seinem eigenen Gericht, da tut ihm die Strafe selber weh, die er über uns bringen muß. Jesus Christus leidet alle Einsamkeiten, alle Gottverlassenheiten, Feindschaften, Todesängste, er leidet alle Versuchungen und alle Gottesgerichte der menschlichen Selbstzerstörung mit. So ist die Liebe Gottes, du törichter Petrus, so ist sie! Sie begleitet uns nicht vom Jenseits der Wolken her mit himmlischer Sympathie und göttlichem Wohlwollen (was unverbesserliche Optimisten dann als "Vorsehung" auszulegen wagen), sondern sie wartet auf uns, und zwar wartet sie so, daß sie neben uns tritt und alle Gerichte und Schrecken, die wir hier durchstehen müssen, mit durchleidet, brüderlich an unserer Seite durchmacht. Hier, mitten in unserer Trauer und Lebensangst, halten wir die Hand, die sich mit der unsrigen verbrennen läßt; hier halten wir sie. Gott kündigt uns seine Treue nicht auf. Und während die eine Hand schlagen muß, hilft uns die andere, da hält und tröstet sie uns. [...]
Hier zeigt sich ein Stück vom Geheimnis des Glaubens überhaupt: Wer still und mit Vertrauen hinnimmt, wenn Gott schweigt, wo er - menschlich gesprochen - reden sollte; Wer still und mit Vertrauen hinnimmt, wenn Gott leidet, statt mit der Faust auf den Tisch der Welt zu schlagen; wer still und mit Vertrauen hinnimmt, daß Gott seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und über die Guten, statt dem Unrecht ein sichtbarer Rächer und dem Guten ein ebenso fühlbarer Schutzherr zu sein; wer alle diese Rätsel erträgt und wem nur das eine genügt, daß er in Sturm und Nacht und Grauen jene eine Hand halten darf, die Jesus Christus heißt; wer es zu glauben wagt, daß diese Hand gelenkt wird von Gedanken, die hoch über allen Rätseln des Lebens dahingehen, und zugleich Macht besitzt, Sturm und Wellen jählings und augenblicklich zum Einhalt zu bringen - der wird erst ganz ermessen, was es heißt: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes; du bist die Hand des Vaters, du bist die mitleidende und mitzitternde und in alledem unendlich treue Hand.
Wenn er es aber zu ermessen beginnt, wird ihn auch eine schreckliche und doch auch sehr tröstliche Ahnung davon überkommen, wer er selber ist. Und vielleicht wird er diese Entdeckung seiner eigenen Abgründe dann ebenfalls in ein Wort dieses Petrus fassen: "Herr, gehe von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch", ich bin nicht wert, daß du mich in deine Nähe und deinen Frieden holst. Ich halte es fast nicht aus, wenn du mich deiner Liebe würdigst.
Indem er dies sagt, wird er ein Wunder erleben. Denn der Herr wird nicht hinausgehen und wird sich nicht abwenden, sondern er wird sagen: Gerade weil du bekennst, daß du meiner nicht wert bist, will ich mich zu dir bekennen. Und gerade weil du mit leeren Händen kommst und nichts zu bringen hast, kann ich dir alles sein. Gehe ein zu deines Herren Freude, du darfst schauen, was du in großer Tiefe geglaubt hast.
Diese Sätze verschlugen mir fast die Sprache, wird doch hier die Herkunft der christlichen Botschaft aus den Quellen schwärzester Pädagogik und tiefsten Selbsthasses ungeschminkt ausgesprochen. In einer Sprache allerdings, die so mit Liebe, Trost und Glaubenshoffnung aufgeladen ist, daß man es kaum fassen kann, daß damit eine der bösartigsten Botschaften verkündet wird, die es je auf dieser Erde gegeben hat: Die Botschaft von unserer eigenen Nichtigkeit, Schlechtigkeit und Wertlosigkeit. Die Botschaft, daß wir nur, wenn wir uns selbst für böse und wertlos erachten, eine Chance haben, geliebt zu werden.
Nur wer diese Botschaft für sich akzeptiert, für den macht der ganze Sermon überhaupt einen Sinn. Bist du nicht völlig zerknirscht in deiner kindlichen Wertlosigkeit, glaubst du nicht, daß du bestraft werden mußt, wie sollte es dir je in den Sinn kommen, deines Vaters Schmerz bei dem von ihm dir zugefügten Leid als liebevollen Beistand anzusehen? Und damit du im Kopf nicht völlig meschugge wirst, gibt es Jesus als Person, der zwar mit dem Vater eins ist, der aber, indem er als abgegrenzte vom Vater bestrafte Person auftritt, es uns erleichtern soll, ihn als mitleidenden Heiland und Helfer wahrzunehmen. Aber machen wir uns nichts vor - Thielicke spricht es explizit aus: Jesus Christus selbst ist es, der uns mit der einen Hand schlägt und mit der anderen Hand tröstet.
Der eigene Unwert, das Verwerfliche des "Selbstseinwollens" ist für Thielicke offensichtlich eine Grundvoraussetzung seiner Theologie. Bezugnehmend auf Pascal, der meinte, es seien unsere "Leidenschaften" die uns daran hinderten "im letzten Ernst" nach Gott zu fragen, führt er im Einführungskapitel seines Buches aus (S. 21):
Das Wort "Leidenschaft" steht hier [...] repräsentativ für den Affekt, mit dem ich mich selbst will: meine Selbsterfüllung, das Durchkosten aller Wonnen und Möglichkeiten, die Natur und Geist aus sich herausgeben - und zwar nicht nur der inferioren Genüsse, sondern auch der Selbstdarstellung des Menschen in seiner Kultur, einschließlich der sublimsten Entfaltung seines inneren Wesens.
Meine Leidenschaft drängt darauf, daß ich mich selbst wollen darf. "Mich selbst" aber habe ich doch nur dann, wenn kein anderer dabei hineinredet und wenn ich in Leidenschaft meine eigene, ungestörte und autonome Identität suchen darf.
"Selbstseinwollen" hält Thielicke für verwerflich, für dass, was uns von Gott trennt. Warum? Ist es nicht der urtümlichste Instinkt, mit dem Gott alle seine Geschöpfe - Pflanzen, Tiere und Menschen - ausgestattet hat? Ist es nicht eine Eigenschaft, ohne die es kein Leben auf der Erde gäbe? Warum sollte es für Gott ein Problem darstellen? Thielicke geht von einem krassen Gegensatz aus: Entweder Ich oder Gott. Ein Sowohl Ich als auch Gott vermag er offenbar nicht zu denken. Woher kommt dieses unversöhnliche Entweder-Oder? "Mich selbst aber habe ich doch nur dann, wenn kein anderer dabei hineinredet", formuliert Thielicke, und man fragt sich, wo es dies im Leben eines Menschen als reale Befindlichkeit gibt.
Die Antwort auf diese Frage weist auf die wirkliche Herkunft, dieses unversöhnlichen Gegensatzes von Ich und Gott hin, die nichts mit Religion oder Theologie zu tun hat: Es ist die Situation des Kleinkinds, dass sich nicht nach seinem eigenen Rhytmus und seiner eigenen Kreativität entwickeln darf, dem seine Eltern ihre Bedürfnisse und ihre Regeln aufzwingen. Dieses Kleinkind wünschte einst, dass ihm "kein anderer hineinredet", dass es seine "eigene, ungestörte Identität" leben dürfe. Aber das war aussichtslos. So spaltete es seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse, sein "Selbstseinwollen" ins Unbewußte ab, machte den Deckel zu und identifizierte sich mit den Bedürfnissen seiner Eltern.
Erwachsen geworden, entwickelt es dann eine Theologie, in der der Wille Gottes und das Selbstseinwollen des Menschen unversöhnliche Gegensätze darstellen. Es kennt ja nichts anderes. Und so ist es dankbar, dass Gott zu ihm sagt: "Gerade weil du bekennst, daß du meiner nicht wert bist, will ich mich zu dir bekennen." Denn das ist ja genau das, was es einst durch Selbstaufgabe von seinen Eltern zu erhalten gehofft hatte, was sie ihm jedoch nie gaben. Jetzt hofft es, dieses ungestillte Bedürfnis endlich von Gott erfüllt zu bekommen, und es wendet die einzige Methode an, die es für geeignet hält, dieses Ziel zu erreichen: Die Selbstaufgabe.
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