Paß auf!

Eine Schar Kinder, vielleicht 10 oder 15 an der Zahl, stehen im Kreis und singen. Sie sind 5 oder 6 Jahre alt. Eine oder zwei Kinderstundenleiterinnen stehen dabei und leiten das Spiellied an.

Paß auf, kleines Auge, was du siehst!
Paß auf, kleines Auge, was du siehst!
Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich,
drum paß auf, kleines Auge, was du siehst!
Paß auf, kleines Ohr, was du hörst!
Paß auf, kleines Ohr, was du hörst!
Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich,
drum paß auf, kleines Ohr, was du hörst!
Paß auf, kleiner Mund, was du sprichst!
Paß auf, kleiner Mund, was du sprichst!
Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich,
drum paß auf, kleiner Mund, was du sprichst!
Paß auf, kleine Hand, was du tust!
Paß auf, kleine Hand, was du tust!
Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich,
drum paß auf, kleine Hand, was du tust!
Paß auf, kleiner Fuß, wo du gehst!
Paß auf, kleiner Fuß, wo du gehst!
Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich,
drum paß auf, kleiner Fuß, wo du gehst!
Paß auf, kleines Herz, was du glaubst!
Paß auf, kleines Herz, was du glaubst!
Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich,
drum paß auf, kleines Herz, was du glaubst!
Paß auf, kleines Ich, werd nicht groß!
Paß auf, kleines Ich, werd nicht groß!
Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich,
drum paß auf, kleines Ich, werd nicht groß!
(zitiert nach dem Kinderliederbuch "Mit frohem Klang", Siegen 1977)

Die Kinder zeigen mit dem Finger auf ihr Auge. "Paß auf, kleines Auge," singen sie. Dann strecken sie ihre Hand über den Kopf und sehen nach oben zum "Vater im Himmel", um sogleich die Hand beobachtend über die Augen zu legen und nach unten hin und her zu blicken, genauso, wie der Vater, der vom Himmel auf sie hinabschaut. Danach zeigen sie mit dem Finger auf ihr Ohr: "Paß auf, kleines Ohr". Und wieder ahmen sie in Gesten nach, wie der Vater im Himmel auf sie hinabschaut.

So geht es Strophe um Strophe. "Paß auf, kleiner Mund," singen sie und zeigen auf ihren Mund. "Paß auf, kleine Hand", der Finger tippt auf ihre Hand. "Paß auf, kleiner Fuß", sie bücken sich und zeigen auf ihren Fuß. "Paß auf, kleines Herz", die Hand liegt auf dem Herzen. Und dann der Höhepunkt und Abschluß: "Paß auf, kleines Ich", der Finger zielt auf die Mitte ihrer Brust, "werd nicht groß", sie zeigen mit der Hand so weit es geht über den Kopf, so groß, wie sie nicht werden sollen. Und dann schaut der Vater im Himmel wieder auf sie hinab und sie spielen es nach, wie er hinabschaut und begreifen durch ihr eigenes Spiel, wie er alles sieht.

Die Kinderstundenleiterinnen lächeln, sie freuen sich, mit den Kindern so ein schönes Lied zu singen und zu spielen. Vorher haben sie ihnen mit Flanellbildern eine biblische Geschichte erzählt vom Herrn Jesus, der alle Kinder liebt. Und als die Jünger verhindern wollten, daß Eltern ihre Kinder zu ihm brachten, sprach er: "Lasset die Kinder zu mir kommen."

Auch ich habe dieses Lied in der Kinderstunde gesungen. Als ich 27 Jahre alt war, fiel es mir wieder ein, und ich fand meine Erinnerung in einem christlichen Kinderliederbuch bestätigt. Dieses Lied hat in mir überdauert bis auf den heutigen Tag: "Paß auf!" Ständig und zwanghaft muß ich alle meinen Äußerungen beobachten und bewerten, fühle mich bei allem beobachtet, selbst wenn ich ganz alleine bin. Ständig habe ich Angst, etwas falsch gemacht zu haben.

Das Lied ist eine exakte Beschreibung dessen was da in mir abgeht: Mein Auge fühlt sich beobachtet bei dem, was es sieht, mein Ohr bei dem, was es hört, mein Mund bei dem, was er spricht, meine Hand bei dem, was sie tut, mein Fuß bei dem wo er geht, mein Herz bei dem was es glaubt, und mein Ich ist klein geblieben, fühlt sich ständig kleiner als die Menschen um mich herum, fühlt sich schwach und machtlos. Auf diese Weise hat Gott, der HERR, in mir überlebt, und seine Mörderhand drückt mir immer wieder die Kehle zu.

Nicht, daß ich glaubte, das ein- oder mehrmalige Absingen dieses Liedes könnte soetwas bewirken. Vielmehr ist dieses Lied, das so selbstverständlich und ohne Scheu und schlechtes Gewissen gesungen wurde, nur ein Zeugnis dafür, daß die Kinderstundenleiterinnen wie alle Christenmenschen um mich herum dieses "Paß auf!" so verinnerlicht hatten, daß niemand seine böse Botschaft bemerkte. Das Lied, das im Grunde eine "kindgerechte" Umsetzung von Psalm 139 ist (1), beschreibt die Grundbefindlichkeit eines Cristenmenschen, der von Gott gleichzeitig behütet und bedroht wird. In diese, vom allmächtigen Big Brother allzeit beobachtete und durchtränkte Atmosphäre hinein werden Christenkinder geboren und nehmen den innern Zwang zur Selbstkontrolle und die Ahnung der eigenen Schlechtigkeit in sich auf.

(1) Eine weitere naheliegende Quelle für dieses Lied ist Markus 9,42-48.

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