Das Tabu der Nächstenliebe

Wer wollte die Nächstenliebe nicht als das herausragende und allseits bejahte Verdienst der christlichen Religion würdigen? Herrscht auch sonst viel Dissenz in religiösen Fragen, so ist man sich doch meist einig, dass die christliche Nächstenliebe als Segen für die Menscheit zu werten sei.

Doch ist sie es wirklich? "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" zitiert Jesus nach Matthäus 22,39 eine Stelle aus 3. Mose 19,18 als (neben der Gottesliebe) "höchstes Gebot" in dem das Gesetz und die Propheten zusammengefasst seien.

Wie auch immer dieser Satz ursprünglich einmal gemeint gewesen sein mag, in der christlichen Rezeption dieser Stelle steckt Sprengstoff für das psychische Wohlbefinden. Gießen wir daher etwas Wasser in den Wein der allgemeinen Begeisterung über die christliche Nächtenliebe.

Kritisisiere ich die Selbstvernachlässigungs- und Selbstaufopferungsmentalität christlicher Gläubigkeit, wird mir neuerdings von christlicher Seite entgegengehalten, Jesus habe doch gefordert, wir sollten unseren Nächsten nur so sehr lieben wie uns selbst. Jesus als Heiler christlich induzierter seelischer Verstümmmelungen? Die das sagen, meinen es ernst und es ist anzuerkennen, dass sie die christliche Selbstaufopferungsethik problematisieren. Jedoch gibt der Textbefund eine solche humanistische Interpretation des Gebots der Nächstenliebe kaum her. Ist doch gerade Jesus Urheber und Verfechter der extremistischen Selbstaufopferungsforderung.

Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's erhalten (Lukas 9, 23-24).
Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden (Matthäus 10,38f).
Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein (Lukas 14,26f).

Angesichts dieser Aufforderungen und Drohungen Jesu und der biblischen Prämisse, dass der Mensch ein eigensüchtiges Wesen und böse von Jugend auf sei, kann das Gebot der Nächstenliebe doch nur so gemeint sein: Böser Mensch, der du egoistisch bist und nur an dich selbst denkst, ich fordere Dich auf, deinen Nächsten genauso sehr zu lieben wie du dich selbst liebst.

Im Zusammenspiel des Gebotes der Nächstenliebe mit der Aufforderung zum Selbsthass wird daraus in der christlichen Praxis das Gebot: Du sollst Deinen Nächsten mehr lieben als dich selbst. Ja, es wird sogar die Eigenliebe an sich suspekt und zum Schimpfwort gemacht.

Aber bleiben wir bei der Aufforderung, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Dieses Gebot wirkt so allgegenwärtig selbstverständlich, dass man sich selten die Mühe macht, einmal aufmerksam darauf zu hören, was es eigentlich bedeutet. Wenn man die traditionelle Verklärung einmal beiseite lässt und sich auf den Wortlaut konzentriert, wird schnell klar, dass wir es hier mit einer unsinnigen und unmöglichen Aufforderung zu tun haben.

Niemand kann einen anderen so lieben wie sich selbst. Es ist nicht einmal erstrebenswert. Es gibt niemanden, der in der Lage wäre mehr für uns zu sorgen als wir selbst. Daher ist es wichtig, zuallererst und am meisten für sich selbst dazusein. Tue ich es nicht, wird kein anderer diese Lücke füllen können. Der Versuch diese Erwartung an andere heranzutragen ist doch gerade ursächlich für das Scheitern menschlicher Beziehungen. Es ist keine tragfägige Grundlage menschlicher Beziehungen, zu sagen: Weil ich mich selbst nicht genug lieben kann, liebe ich dich, damit du für mich sorgst.

So wird deutlich, dass die Forderung, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben nicht nur unmöglich und nicht erstrebenswert ist, sondern dass der Umstand, dass ich mich selbst am meisten liebe sogar eine Voraussetzung dafür ist, andere überhaupt lieben zu können.

Obwohl niemand im wirklichen Leben andere genauso sehr wie sich selbst liebt, sieht sich ein christlich aufwachsender Mensch ständig mit solchen und ähnlichen unmöglichen und unsinnigen Idealen und Geboten konfrontiert und wird dadurch zu einer Bewusstseinsspaltung genötigt. Ein Beispiel für solche Unmöglichkeiten, die dennoch mit hohem Konsens als Vorbild gelten, ist das folgende Plakat des Diakonischen Werks, das ein Zitat der allseits verehrten Mutter Teresa von Kalkutta wiedergibt, und mich im Alter von 21 Jahren immerhin so beeindruckte, dass ich es in meinem Zimmer aufhängte.

Laß nie zu, daß Du jemandem begegnest, der nicht nach der Begegnung mit Dir glücklicher ist.

Selbst wenn man sich am Gebot der Nächstenliebe orientierte, würde dies in vielen Fällen erfordern, manche Menschen zu enttäuschen um andere lieben zu können. Aber noch viel bedeutsamer ist es, dass diese Aufforderung mit der Bewahrung der eigenen physischen und psychischen Gesundheit unvereinbar ist. Wer seine eigenen Grenzen nicht schützt, womit die Frustration des Glücksbedürfnisses anderer unumgänglich verbunden ist, gefährdet seine eigene Gesundheit und sein eigenes Leben.

Es ist beängstigend, wie diese objektiv unmögliche und krankmachende Aufforderung dennoch ein Gefühl der Stimmigkeit, eine Sehnsucht heil zu werden und endlich nach hause zu kommen in mir auszulösen vermag. Sie spricht etwas in mir an, dockt sich wie ein Virus an eine früh eingeprägte Bereitschaft in meinem Gehirn an, ein Virus das sich in meinem Geist und Körper vermehren möchte um danach auszuschwärmen und weitere Menschen zu infizieren. Allein mein Verstand warnt mich, analysiert die Ungeheuerlichkeit dieses Geschehens und steht angesicht der emotionalen Kraft auf verlorenem Posten, wird zum hilflosen Zeugen.

Wie kann es sein, dass das Diakonische Werk ein solches Plakat veröffentlicht, ohne vom Sturm der allgemeinen Entrüstung zurückgepfiffen zu werden? Wie kann es sein, dass Mutter Teresa, die solche kranken Ideale propagierte, vom Papst selig gesprochen und damit den Menschen in herausgehobener Weise als Vorbild hingestellt wird? Offensichtlich ist es möglich. Und die Ursache dafür liegt nicht zuletzt in der allgemeinen Verklärung christlicher Nächstenliebe bis weit in nichtchristliche und atheistische Milieus hinein, die ein Infragestellen dieses Konzepts als Leitbild für menschliches Leben als schändlichen Tabubruch erscheinen lässt.

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